Bis heute werden Knochen und andere Körperteile von Heiligen verehrt. Im Mittelalter gab es auch in der Sebalduskirche einen Reliquienkult. Was erwartete der mittelalterliche Mensch sich von diesen Reliquien? Im folgenden Artikel schauen wir uns genauer an, welche Spuren sich aus dieser Zeit dort erhalten haben.

Das Heil der Menschen

Die Menschen des (späten) Mittelalters lebten in einer höchst unsicheren Welt, die geprägt war von Kriegen, Gewalt, Seuchen, Dunkelheit, Hungersnöten und Naturkatastrophen. Ihre Zuflucht suchen sie daher vor allem in der jenseitigen überirdischen Welt. So bestimmt der Glaube und das Streben nach dem Heil im Jenseits ganz entscheidend den Alltag. Der Begriff „Heil“ lässt sich heute wahrscheinlich am besten mit „Erlösung“ oder auch mit „Glück“ übersetzen.

Das durch die Kirche vermittelte Menschenbild war stark geprägt von der Vorstellung über die „Erbsünde“. Der Mensch ist auf der einen Seite das Ebenbild Gottes, auf der anderen Seite aber ein armer Sünder, der durch verschiedene Begierden und den Teufel immer wieder zu einem sündhaften Leben verleitet wird.

In der Sorge um ihr Heil ergriffen die Menschen die von der Kirche angebotenen Möglichkeiten zur Vergebung ihrer Sünden. Beichte und Buße gehören genauso dazu wie die unterschiedlichen Ablässe. Ablässe erhielt man für Spenden sowie für fromme Taten und auch für die Verehrung von Reliquien. Vor diesem Hintergrund konnten Reliquien und ihr Besitz sogar eine wichtige Daseinsvorsorge werden. Die Heiligen, von denen diese Reliquien stammen, wurden nicht nur als Vorbilder im Glauben verehrt, sondern ihre Anwesenheit und ihre Fürsprache im Jenseits bei Gott sicherte das jenseitige Heil der Menschen.

Ein wichtiger theologischer Begriff dieser Zeit, der schon im frühen Mittelalter geprägt wurde, ist das Fegefeuer. Im Fegefeuer wird die Seele der Menschen, die ein gottgefälliges Leben geführt haben, nach deren Tod von ihren Sünden gereinigt – eine Prozedur, die sicherlich nicht angenehm ist und daher so kurz wie möglich sein sollte. Unter anderem durch Ablässe konnte man für sich selbst und für schon Verstorbene diese Zeit im Fegefeuer verkürzen, wie der Werbespruch, der dem Prediger und Ablassverkäufer Johann Tetzel zugeschrieben wird, schön ausdrückt: „Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel im Himmel springt“.

Hieronymus Bosch - The Garden of Earthly Delights - Hell

Seitentafel des dreiteiligen Gemäldes „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch, das die Hölle darstellt, entstanden um 1490.

Was sind Reliquien und warum besitzen sie für die mittelalterlichen Menschen einen so besonderen Wert?

Die Reliquien des Hl. Sebaldus werden in einem Schrein aufbewahrt.

Thiofrid von Echternach (1081 bis 1110 Abt der Benediktinerabtei Echternach) verfasste Anfang des 12. Jahrhunderts ein aus vier Büchern bestehendes Werk über das Wesen der Reliquien (Flores epytaphii sanctorum, d.h. Blüten aus Heiligengräbern).

Darin beschreibt er den Kontrast zwischen den kostbaren Materialien, aus denen die Reliquiare bestehen und der auf ersten Blick wertlos erscheinenden aber authentischen Materie, aus der die Reliquien bestehen. Aber eigentlich ist das Gold, Silber und die Edelsteine nur wertloser Plunder, der glänzt und die Augen blendet. De Reliquien hingegen sind erfüllt von unsichtbarem göttlichen Glanz. Dem Behälter wird der Charakter eines Zeichens zugesprochen, das auf etwas Unsichtbares hinweist. Reliquien stehen somit für den ewig lebenden Heiligen, der heute schon die Herrlichkeit des Paradieses genießt, und dem Menschen, der daran glaubt helfen zu können.

Dieser theoretische Ansatz führt schon in der Praxis des Mittelalters (und heute auch immer noch) zu verschiedenen Ausprägungen des Reliquienkults.

Reliquien sind Gedenkstücke an Heilige oder sogar direkt an Christus. Das können Überreste des Körpers sein, der Gewänder oder andere Objekte, die mit der verehrten Person in Verbindung standen.

Reliquien sind:

  • alle Arten von Knochen (evtl. mit Geweberesten), da diese Körperteile vor Verfall am besten geschützt werden können oder auch in Gräbern Jahre nach dem Tod der Heiligen noch auffindbar waren.
    Von Jesus selbst sind keine Körperteile erhalten, da er in den Himmel aufgefahren ist, nur seine Vorhaut wurde an mehreren Stellen verehrt (z.B. in Calcata im Latium, 1983 verschwunden)
  • Gewandreste, z.B. ein Stück vom Mäntelchen des Hl. Martin, (Aus dem Aufbewahrungsort des Mantels (lat. Capella) in Aachen leitet sich das Wort Kapelle ab).
  • Gegenstände, die mit den Heiligen zu deren Lebzeiten in Berührung gekommen sind, z.B. die Bürste, mit der Elisabeth den Armen die Haare bürstete oder die in den Reichskleinodien (auch Heiltümer genannt) befindlichen Reliquien wie die Krone Karls des Großen und die Hl. Lanze, mit der Jesus am Kreuz die Seite geöffnet worden sein soll.
  • Darüber hinaus können auch Gegenstände, die sich in der Nähe von wertvollen Reliquien befunden haben, als Kontaktreliquien verehrt werden.

Reliquien wurden sehr häufig in kostbaren und künstlerisch wertvollen Aufbewahrungsbehältern, den Reliquiaren, eingebettet. Diese waren mit Edelsteinen verziert, aus Silber oder Gold gefertigt. So waren die Reliquien geschützt und gleichzeitig wurde ihre herausragende Bedeutung deutlich.

Sammeln von Reliquien

Herrscher des Mittelalters (und auch der Neuzeit) verehrten Reliquien auf eine besondere Weise. Von Karl IV. ist bekannt, dass er seine Frömmigkeit auch durch das sehr intensive Sammeln von Reliquien demonstrierte. Es ist dokumentiert, dass er auch Knochenpartikel des Hl. Sebald von Nürnberg nach Prag überführte und in seine Sammlung aufnahm.

Auch der Besitz von Reliquien war mit Ablässen verbunden. Wer also Reliquien besaß, war nicht auf Ablasshändler wie Johann Tetzel angewiesen. Luthers Schutzherr, Kurfürst Friedrich der Weise, besaß einen Schatz von über 19.000 Reliquien und Albrecht von Brandenburg (Erzbischof von Magdeburg und Mainz, Kardinal, Gegenspieler Luthers) soll durch seine Reliquiensammlung 38 Millionen Jahre Ablass angesammelt haben.

Reliquien finden sich auch in anderen Religionen, so kann man heute in der Schatzkammer des Topkapi Palasts in Istanbul unter anderem Barthaare des Propheten Mohammed oder den Stab des Propheten Moses sehen.

In der Sebalduskirche wurden die Reliquien in einem separaten und gut gesicherten Raum über der Nordsakristei aufbewahrt.

Schatzkammer über der Nordsakristei

Das Fresko des „Schweißtuchs der Veronika“ war für die Menschen des Mittelalters ein klarer Hinweis auf wertvolle und heilsbringende Reliquien.

Die wertvollen Reliquien wurden in stabilen mit Schlössern gesicherten Schränken aufbewahrt. Ein solcher Wandschrank hat die Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs überstanden.

Blick aus dem Erker in die Kirche auf die gegenüber liegenden farbigen Fenster.

Über der Sakristei auf der Nordseite befindet sich ein Raum, der nur durch diese Sakristei über eine schmale Treppe erreichbar ist. Die ursprüngliche Funktion dieses Raums war die sichere Aufbewahrung der Kirchenschätze, es handelt sich also um eine Schatzkammer. Es ist davon auszugehen, dass dieser Raum gemeinsam mit der Sakristei und dem Hallenchor zwischen 1361 und 1379 errichtet wurde.

Der Raum ist mit der Kirche durch einen Erker verbunden, die Fenster des Erkers sind mit Gittern gesichert. Das mittelalterliche Stadtbild Nürnbergs war durch viele solche Erker außen an den Häusern geprägt, die man seit dem 19. Jahrhundert als „Chörlein“ bezeichnet. Die in den Hallenchor hineinreichende Außenseite dieses Chörleins ist reich geschmückt. Reliquien verströmten nach mittelalterlichen Auffassung eine betörenden Duft, gleich dem von Blumen. Daher finden wir an der Unterseite des Erkers auch Blüten als Schmuckelement.

Die Fensteröffnungen ermöglichten nicht nur, dass das von den Reliquien ausgehende Heil auf direktem Weg die Menschen erreichte, sondern man konnte in den Fenstern auch einzelne Reliquien gleichzeitig gut sichtbar und sicher präsentieren. So ist durch Abrechnungen belegt, dass 1487 Sebald Schreyer in seiner Rolle als Kirchenpfleger von St. Sebald einen Schlosser, der Bretter an das Gitter angebracht hatte, entsprechend bezahlte.

Die Wandmalerei unterhalb der vergitterten Fenster ist heute nur noch schemenhaft erkennbar, so dass unklar ist, was oder wer darauf ursprünglich abgebildet war. Das Gemälde oberhalb des Chörleins ist besser erhalten: es ist die „Vera Ikon“, (Vera=wahr, lateinisch und Ikon=Bild, altgriechisch), also das Abbild Christi auf dem Schweißtuch. Dieses soll entstanden sein, als Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung sein Antlitz in dieses Tuch drückte. Das Bild hatte für den mittelalterlichen Menschen einen wichtigen Symbolwert, es diente als Hinweis auf besondere Reliquien und das damit verbundene Heil. Das Wandfresko wurde 1493 von Sebald Schreyer gestiftet. Das (angebliche) Schweißtuch selbst wird heute in einem der Vierungspfeiler der Peterskirche in Rom aufbewahrt.

Gehalten wird dieses Schweißtuch von den Heiligen Petrus und Paulus. Man kann diese Darstellung der wichtigsten römischen Heiligen als eine Art Garantie interpretieren. Durch deren Autorität wird die Authentizität der an diesem Ort aufbewahrten Reliquien verbürgt und gleichzeitig auf die damit verbundenen Ablässe hingewiesen.

Wann genau der in dieser Schatzkammer aufbewahrte Reliquienschatz verloren gegangen ist, wissen wir nicht. Es spricht jedoch vieles dafür, dass nach der Reformation in Nürnberg (1525) der Schatz nach und nach aufgelöst wurde. Ein verbliebener Rest ist dann wahrscheinlich nach 1806 verkauft worden, als nach dem Ende der reichsstädtischen Zeit bayerische Beamte Kirchenschätze verkauften, um die Nürnberger Schulden abzutragen.

Später hat man in dem Raum die Pläne, Bilder und Dokumente der großen Restaurierung um 1900 gelagert. Während der Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs wurde der Raum aber zum größten Teil zerstört und die zu diesem Zeitpunkt dort gelagerten Dokumente und Zeugnisse gingen komplett verloren.

Hallerfenster: „Unschuldige Kindlein“

In der Sebalduskirche wurde nicht nur der Stadtpatron, der Hl. Sebald verehrt. Ein Hinweis auf eine weitere besondere Reliquie und die mit ihr verbundene Verehrung findet sich auf einem Glasgemälde an der Südseite des Chorumgangs. In der fünften Zeile des Hallerfensters ist über vier Scheiben hinweg und damit außerordentlich breit der Kindermord von Bethlehem dargestellt.

 

Darstellung des Kindermords von Bethlehem im Hallerfenster.

 

Man kann sich fragen, warum diese Darstellung hier an dieser Stelle gewählt wurde, da sie offensichtlich mit dem übrigen Bildprogramm des Fensters nicht direkt in Beziehung steht. Die Antwort gibt uns das älteste Schatzverzeichnis der Sebalduskirche aus dem mittleren 15. Jahrhundert. Dort findet sich unter den kostbaren Reliquiaren eine vergoldete Monstranz aus Silber mit den Armknochen eines der „Unschuldigen Kindlein“. Der Gedenktag der „Unschuldigen Kindlein“ am 28. Dezember erinnert an den in der Bibel mit der Weihnachtsgeschichte überlieferten Kindermord von Betlehem, als der König Herodes alle Knaben unter zwei Jahren töten ließ.

Diese Reliquie war eine Hauptsehenswürdigkeit der Sebalduskirche. Wenn sie dann Ende Dezember in inneren Chorbereich ausgestellt wurde, dann wurden die Gläubigen wahrscheinlich an diesem Fenster entlang in den inneren Chorbereich geführt und visuell auf diese Begegnung eingestimmt.

Sebaldusschrein

Eine der beiden Holzladen, entstanden wahrscheinlich Ende des 14. Jahrhunderts und in einem außergewöhnlich guten Erhaltungszustand.

Der Überlieferung nach befinden sich in den purpufarbenen Seidensäckchen die Gebeine des Hl. Sebald.

Neben den Gebeinen enthalten die beiden Holzladen auch noch Urkunden der Visitationen des Grabs.

Die Gebeine des Hl. Sebald befinden sich in zwei hölzernen Laden, die wahrscheinlich wie der Silberschrein am Ende des 14. Jahrhunderts entstanden sind und heute hintereinander in diesem stehen.

In den Laden sind die Gebeine des Hl. Sebald in mehrere pupurfarbene Seidensäckchen eingenäht. Auch bei der Visitation im Juli 2019 wurden die Seidensäckchen, wie bei den früheren Visitationen, nicht geöffnet.

Purpurfarbene Seidensäckchen verhüllen die Gebeine. Nur ein einziges ist beschriftet mit „Hoc est caput Sancti Sebaldi“, das heißt „Dies ist der Kopf des Hl. Sebald“. Die Form des Säckchens deutet auch auf einen Schädel hin.

Im Mittelalter wurde der Schädel des Hl. Sebalds nicht im Schrein, sondern in einem silbernen Reliquiar außerhalb des Sebaldusgrabs verwahrt, vermutlich im Rathaus. Die Menschen glaubten daran, dass die Berührung mit dieser Reliquie Wunder bewirken und Kranke heilen könnte.

Nach 1806, als Nürnberg dem Königreich Bayern angegliedert wurde, verkaufte man viele wertvolle Gegenstände und Einrichtungen, um die hohen Schulden der Stadt Nürnberg zu tilgen. Oft wurde sogar nur nach dem Materialwert verkauft und Metalle eingeschmolzen und wiederverwendet. Zu dieser Zeit verliert sich die Spur des Reliquienbehälters. Es ist davon auszugehen, dass auch dieser eingeschmolzen wurde.

Die Schädelreliquie des Hl. Sebald aber wurde mit dem Stadtarchiv aus dem Rathaus in das neu gegründet Staatsarchiv überführt und erst Ende des 19. Jahrhunderts in eine der Holzladen des Sebaldusschreins gelegt. Dies lässt sich heute durch die digitalisierten Urkunden genau nachverfolgen.

Am Gedenktag des Heiligen Sebaldus, dem 19. August, wurde der Schrein in einer Prozession durch die Kirche getragen. 1523 wurde der Sarg das letzte Mal durch die Kirche getragen, 1524 hat man darauf verzichtet und 1525 nach der Einführung der Reformation war dies kein Thema mehr.

Im Jahre 1461 hatte es einen Einbruch in die Kirche gegeben, bei dem es die Diebe neben Wertsachen auch besonders auf die in der Kirche aufbewahrten Reliquien des Hl. Sebald abgesehen hatten.

Daher entschied man, den Sebaldusschrein 1463 zu öffnen und die Vollständigkeit des Inhalts zu prüfen. Wie wir heute der Urkunde entnehmen können, die anlässlich dieser ersten Visitation angefertigt und im Schrein deponiert wurde, war der Inhalt unangetastet.

Das vorreformatorische Ritual der Visitation wurde auch nach der Reformation in Nürnberg fast durchgehend wiederholt, ungefähr alle 20 bis 30 Jahre, zuletzt 1993. Dabei wird die Vollständigkeit des Inhalts geprüft und durch Zeuginnen und Zeugen der Gemeinde, anderer christlichen Konfessionen und der Bürgerschaft Nürnbergs in einer Urkunde festgehalten.

Die Graböffnung im Jahr 2019 fand zum ersten Mal öffentlich statt. Die Siegel an den beiden inneren Holzladen des Sebaldusschreins waren intakt und wurden gebrochen, um die Laden öffnen zu können.

Am Ende einer jeden Visitation werden die Laden wieder verschlossen, neu versiegelt und mit der neuen Urkunde wieder in den Silberschrein zurück verbracht. Im Jahr 2019 wurde außerdem ein Messgerät in den Schrein gestellt, um zu denkmalpflegerischen Zwecken kontinuierlich Temperatur und Feuchtigkeit im Schrein zu erfassen und zu dokumentieren.